Meine Erfahrung mit krankhafter Scham

Meine Erfahrung mit krankhafter Scham

„Ich schämte mich, ich zu sein“

Letzte Woche habe ich beschrieben, was Schamgefühl ist, was es mit dir macht und woher es stammt. Diese Woche möchte ich von meinen Erfahrungen mit krankhafter Scham berichten. Welchen Einfluss dieses Gefühl auf mich und mein Leben hatte und wodurch es entstand.

Scham sagt „Ich bin falsch!“

Scham ist immer sehr tief liegend und das einzige Gefühl, welches sich auf sich selbst bezieht. Scham sagt „Ich bin falsch!“ und verhindert die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.

Ich würde Scham als die totale Hemmung beschreiben. Aus ihr gingen meine Minderwertigkeit, Unsicherheit und viele verschiedene Ängste hervor. Jeder weiß bestimmt, wie es ist, sich für etwas zu schämen. Das ist dann aber nur für einen Moment. Schämt man sich für sich selbst, schämt man sich permanent und für alles. Und so war es bei mir.

Krankhafte Scham entsteht schon in der frühen Kindheit. Auch bei mir fiel dieses Gefühl nicht vom Himmel. Weil dies so ist, möchte ich vorab ein anderes Thema anschneiden. Und zwar:

Schlecht über die eigenen Eltern zu sprechen…

Als Emotionscoach erlebe ich es häufig: Die Hemmung, sich unvorteilhaft über die eigenen Eltern zu äußern. Schuld und Scham lassen Menschen nur schwer unbefangen über ihre Kindheit sprechen. Viele können nicht einmal den Gedanken an mögliche Schattenseiten zulassen. Wenn man jedoch im Hier und Jetzt zufrieden und ausgeglichen leben möchte, sollte man die Vergangenheit beleuchten und aufräumen. Sie möchte verarbeitet werden, dein verletztes inneres Kind möchte gehört und geheilt werden. Es ist nicht immer schön, was man da entdeckt, aber es lohnt sich hinzusehen, denn nur so hast du die Möglichkeit endlich loszulassen. Leichtigkeit, statt tief verborgen täglich Altlasten mit dir herumzuschleppen.

…ein Tabu!

Die eigene Welt gerät stark ins wanken, wenn man plötzlich feststellt, dass die eigene Kindheit gar nicht so war, wie man sie sehen wollte. Zumindest ging es mir so. Ich hatte zwar zu Schulzeiten schon bemerkt, dass es bei den Klassenkameraden Zuhause anders zuging - liebevoller und achtsamer, aber es durfte nicht als Erkenntnis zu mir durchdringen. Stattdessen tat ich automatisch alles, um mein Zuhause und meine Mutter zu schützen.

Sehr viel später erst habe ich mir erlaubt, nur einmal vorsichtig zu denken, dass meine Mutter keine gute Mutter war - an sich gar keine. Sie hat mich nie unterstützt, sich nicht für mich interessiert und war emotional abwesend, Kritik und Missachtung waren mein täglich Brot. Trotzdem hat man als gute Tochter so etwas nicht zu denken - geschweige denn auszusprechen; man hat dankbar zu sein. Aus dieser Zwickmühle musste ich mich erst einmal befreien, bevor ich in die Aufarbeitung meiner Kindheit gehen konnte.

Meine Mutter hat wie jede andere auch ihr bestmögliches gegeben, vielleicht ist dies mir sogar bewusster, als ihr. Aber wenn eine Mutter ihre Rolle nicht annehmen kann, übernimmt die Verantwortung automatisch das Kind. Diese Suppe muss es dann meist ein Leben lang selbst auslöffeln.

Auch Eltern sind nicht perfekt

Es müssen nicht immer die Eltern sein, auch andere Einflüsse können die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes stören. Eltern haben aber den mit Abstand größten Einfluss auf die Entwicklung ihres Kindes und das vor allem in der prägendsten Phase.

In dem Artikel über Schamgefühl erwähnte ich bereits, dass niemand perfekt ist, dies schließt die eigenen Eltern mit ein. Viele Mütter und Väter haben nur geringen Kontakt zu den eigenen Emotionen. Dies spiegelt sich auch in der Beziehung zum eigenen Kind wider. Es zeigt sich vor allem in mangelnder Geduld, Stress und Unzufriedenheit, wenn etwas nicht so funktioniert, wie es erwartet wird.

Wie man mit sich selbst umgeht, so geht man auch mit dem eigenen Kind um. Diese Information kannst du gern auch im Hinterkopf haben bei deiner Partnerwahl.

Ich dachte, es liegt an mir

Meine Mutter war immer sehr unzufrieden und kritisierte mich für alles und vor allem ständig. Ich konnte ihr nichts recht machen. Als Kind nahm ich schnell an, dass ich keine gute Tochter und somit nicht liebenswert sei. Ich wollte sie immer nur glücklich machen und endlich geliebt werden. Aber egal was ich tat, es war nie richtig. Ich bekam permanent gespiegelt, unzulänglich und falsch zu sein. Irgendwann war ich selbst überzeugt davon und begann mich zutiefst für mich selbst zu schämen.

Als Kind zweifelt man nicht an den Eltern, sondern schaut zu ihnen auf und bewundert sie. Ich konnte also gar nicht anders, als anzunehmen, eine schlechte Tochter, ein schlechter Mensch und somit nicht ok zu sein. Ich wurde immer weniger und wünschte mir oft, nicht zu existieren.

Mein alter Glaubenssatz: „Ich bin nicht ok“

Glaubenssätze wie „Ich bin nicht ok“ „Ich bin nicht liebenswert“ „Ich bin falsch“ machten aus mir einen äußerst schüchternen, verunsicherten und unfreien Teenager. Als Erwachsene gesellten sich noch Ängste und schließlich auch Panikattacken dazu.
Der Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“ war mir sehr viel bewusster, als die Tatsache, dass ich mich für mich selbst schämte. Erst als Angst fand die Scham ihren Weg in mein Bewusstsein. Die Angst nicht gut genug zu sein, Angst zu versagen, Angst vor Ausgrenzung, Ablehnung und Bewertung.

Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück. Meine Welt wurde immer enger.

Ich und die Scham

Ich war sehr verschlossen und unnahbar.
Ich war zutiefst verunsichert und vertraute mir selbst nicht mehr.
Ich fühlte mich meinen Emotionen hilflos ausgeliefert.
Ich war voll mit unnützen, immer wiederkehrenden, destruktiven Gedankenmustern und Überzeugungen mich selbst betreffend.

Krankhafte Scham dauerhaft in mir zu spüren, machte mich immer kleiner und unscheinbarer. Ich verkroch mich in mir selbst und traute mir kaum noch etwas zu. Ich ging immer mehr in die Vermeidung. Es war die totale Zurücknahme einer Persönlichkeit, die ich eigentlich nie besessen hatte. Denn als Kind bekam ich erst gar keine Chance, sie zu entwickeln.
Die Scham hat mich um sehr viele schöne Erfahrungen und Momente betrogen. Meine tief sitzende Minderwertigkeit und der Glaube nicht richtig - nicht gut genug zu sein, kostete mich meine Unbeschwertheit und emotionale Freiheit.

Scham vermeidet!

Ausgelöst durch das Gefühl nicht ok zu sein, hatte ich einen niedrigen Selbstwert, Angst vor Ablehnung, davor etwas falsch zu machen, oder jemanden zu verärgern. Dadurch war ich in der Schule, während des Studiums und auch im Beruf still und zurückhaltend. Es war mir unmöglich auf andere zuzugehen. Ich empfand es auch als Belastung einen Raum mit vielen Menschen zu betreten. Ich war die meiste Zeit sehr angespannt und innerlich unruhig. Ich wusste oft nicht was ich sagen soll und hatte Probleme mich zu integrieren.

Es war für mich kaum möglich, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Meine Schüchternheit wurde in aller Regel als Arroganz missinterpretiert, was mein Leben noch zusätzlich erschwerte. Dabei wollte ich doch einfach nur nicht auffallen - und schon gar nicht unangenehm.

Die Scham hat mir mein Leben sehr lange Zeit zur Hölle gemacht. Ich konnte mich nicht richtig entfalten und habe gar nicht richtig gelebt und erlebt.

Meine Fassade

Ich wollte unbedingt perfekt sein, um negativer Bewertung zu entgehen - um bloß nicht negativ aufzufallen. Noch viel wichtiger als das, war mir jedoch, immer stark zu wirken und mir nichts anmerken zu lassen. Ich tat so, als sei mir egal, was andere von mir denken, aber das Gegenteil war der Fall. Ich ließ nichts und niemanden an mich heran und schob alles von mir weg und verdrängte es ungesehen in mein Unterbewusstsein. Es sollte niemand erfahren, wie es tatsächlich in mir aussah, nicht einmal ich selbst. Ich wäre lieber gestorben, als hilflos und schwach zu wirken. Doch hinter dieser Fassade „Starke, unerschütterliche Anja“ kauerte ein verängstigtes, verletztes und verletzliches Mädchen, das sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte. Diese weiche, feminine Seite musste ich schon früh verleugnen und verdrängen, um stark genug für meine Kindheit zu sein.

Hinter meiner Fassade

Meine Fassade hielt stand, aber dahinter bröckelte es spürbar. Ich fühlte mich irgendwann nur noch einsam und leer. Aber erst die Panikattacken zwangen mich näher hinzusehen, zu reflektieren und dann auch etwas zu tun. Die klassischen Psychotherapieformen versagten bei mir jedoch gänzlich. Über meine Kindheit zu sprechen, änderte nichts an meiner Gefühlswelt, oder dem Chaos in meinem Kopf - es löste nichts auf und eine professionell, neu erlernte Fassade reichte mir nicht. Es wäre nur Schein und nicht Sein gewesen.

Mein Weg war die Flowering Tree Methode

Wie unbewusst, wie unnahbar und wie entfernt ich von mir und meinen Emotionen wirklich war, weiß und spüre ich erst heute in vollem Umfang. Nach und nach, mit jeder Flowering Tree Sitzung vervollständigte sich das Puzzle „Anja“ - fand ich mehr und mehr zu mir selbst, zu meinen Emotionen und meinen eigenen Bedürfnissen. Neben innerer Zufriedenheit, Gelassenheit und Unabhängigkeit, erlangte ich echtes Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und eine Selbstliebe, die mir innere Geborgenheit schenkt.

Der Weg dorthin war oft nicht leicht. Ich war manchmal verzweifelt, fühlte mich wie ein Fass ohne Boden, weinte und verfluchte mein Schicksal. Aber als ich endlich bei mir ankam, wusste und spürte ich, dass sich Zeit, Geld, Schmerz und jede Träne gelohnt hatten.

Heute kann ich unbefangen einfach ich selbst sein. Ich gestalte mein Leben nun selbst und habe einen sehr viel größeren Handlungsspielraum als früher. Ich sehe mich und meine Umgebung mit ganz anderen Augen. Ich kann nun erkennen, wenn mir das Leben etwas schenkt und kann es annehmen. Für diese unglaubliche Veränderung, dieses zweite Leben bin ich meiner Ausbilderin und der Flowering Tree Methode auf ewig zutiefst dankbar.

Ich hätte meine Scham auf emotionaler Ebene niemals mit klassischer Psychotherapie überwinden können. Die Scham ist nun nicht verdrängt, oder verleugnet, ich musste auch nicht lernen, besser mit ihr zu leben; sie ist auf emotionaler Ebene gelöscht. Das bringt eine unglaubliche Leichtigkeit mit sich, die der Verstand allein niemals so abbilden könnte. Die Arbeit mit dem Verstand reicht meiner Meinung nach nicht aus, wenn es um Gefühle geht. Es wäre für mich nicht authentisch gewesen, ich hätte es wieder nur als eine Fassade empfunden. Ein erlerntes Verhalten ist kein gefühltes Verhalten und vom Theaterspiel hatte ich bereits genug.

Mein neues Gefühl: „Ich bin voll ok“

Aus dem Gefühl ok zu sein, entsteht automatisch auch der Glaubenssatz richtig zu sein. Aber nur zu denken „Ich bin ok“, kann das tatsächliche Fühlen, die innere Zufriedenheit mit sich, nicht ersetzen - Gefühle sitzen nicht im Kopf!

 

Anja

Deine Geburt. Dein Urtrauma.

Deine Geburt - Dein Urtrauma

Trennungsangst, Verlustangst, Angst vor Veränderung

In diesem Artikel möchte ich dir dein erstes Trauma vorstellen - deine eigene Geburt! Ja, du hast richtig gelesen, ich behaupte, deine Geburt ist dein Urtrauma, womit jeder per se traumatisiert ist. Damit du dies besser nachvollziehen kannst, möchte ich meinen Artikel mit einer Metapher beginnen:

Weiterlesen